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Einblicke in die Gedanken eines Brasilianers – Teil 1

nachdem wir nun über 8 Monaten in Sao Paulo wohnen und arbeiten, ist es nun Zeit für eine kleine Kulturanalyse – denn das Überraschendste für uns ist wirklich die brasilianische Mentalität und Kultur, die wir Anfang des Jahres noch ganz anders beschrieben hätten. Wir lernen jeden Tag hinzu und so setzt sich das komplexe, brasilianische Puzzle so nach und nach zusammen. Unsere aktuellen Impressionen setzen sich zusammen aus eigenen Erfahrungen, interkulturellen Trainings, Gesprächen mit Brasilianern und Expats sowie Literatur über das spannende Thema…ein bunter Straus, aber es kann natürlich nur ein minimaler, verzerrter Einblick in das komplexe Thema „brasilianische Kultur“ sein.

Erstmal gilt festzuhalten, dass sich fast alle einig sind, dass der Brasilianer auch heute noch sehr stark geprägt ist von der Kolonial- und Sklavenzeit…auf den ersten Blick scheint dies eine einfache, banale Erklärung zu sein, aber bei genauerem Hinsehen kann man damit schon einige Phänomene der Gesellschaft erklären. Zudem wird das Fehlen von großen Kriegen, Krisen, Revolutionen in der brasilianischen Geschichte (selbst die Unabhängigkeit war unblutig!) gepaart mit dem Vorhandensein von Nahrung im Überfluss (Früchten/ Fleisch) und einem warmen Klima als ein Grund gesehen, wieso das brasilianische Volk heute etwas apathisch wirkt und es wenig Eigeninitiative, Solidarität oder Gerechtigkeitssinn gibt wie z.B. in Europa. Grade gestern sagte mir ein Taxifahrer… „Die Brasilianer würden wahrscheinlich nicht mal etwas dagegen unternehmen, wenn Argentinien hier einmarschiert…denn sie würden denken „vielleicht wird’s ja besser“!“

Die folgenden 10 Fragen (hier erstmal 5; Teil 2 dann die weiteren 5) charakterisieren aus meiner Sicht ganz gut, wie der Brasilianer tickt.

1. Bist du Freund oder Feind? Zwischenmenschliche Beziehungen und Empathie sind das A und O in Brasilien. Hat man wichtige, einflussreiche Freunde kann einem eigentlich nichts passieren… daher wägt der Brasilianer in jedem Kontext erstmal ab, wie er zu einer Person steht – ob sie ihm sympathisch ist, ob sie ihm vielleicht helfen könnte, ob sie eine Gefahr darstellt. Wichtig ist daher IMMER erstmal die Person kennenzulernen, Fragen zu stellen, Komplimente zu machen…alles damit das Gegenüber Empathie entwickelt. Ist das erstmal geschafft ist nichts mehr unmöglich – ob im Alltag (Restaurant), beim Shoppen (z.B. Umtausch) oder bei der Arbeit. Interessant ist auch das offizielle Regeln oder Gesetze für Freunde erstmal nicht gelten oder nicht so streng ausgelegt werden, für Nicht-Freunde gelten natürlich erstmal die starren Regeln (und davon gibt es in Brasilien genügend). Wieso ist das so? Ein Grund der immer wieder genannt ist, ist die Kolonialzeit. Da niemand den Kolonialherren trauen konnte, hat man sich selber untereinander arrangiert und eine Paralleluniversum geschaffen, um ein einigermaßen gutes Leben führen zu können. Das führt zu diesem „Du machst das für mich; ich das für dich - wir profitieren beide, nur die Kolonialherren sind die Gelackmeierten“. Im Jahre 2015 gibt es zwar keine Kolonisation mehr…aber einer Regierung der man nicht traut…insofern baut man eher auf seine eigenen „Freunde“ und hintergeht die Regierung (genauso übrigens wie die Regierung ihr Volk hintergeht – also doch irgendwie fair?). Auch die Loyalität und Bindung zum Arbeitgeber ist nur rudimentär vorhanden; vielen ist es lieber sie haben ein gute Verbindung mit Zulieferern oder Kunden…als den besten Deal für die Company auszuhandeln. Nachdem wir anfangs einiges an Lehrgeld gezahlt haben, kommen wir mit dem „Zwischenmenschlichen“ inzwischen recht gut klar. Man muss sich dran gewöhnen, dass es keine festen Prozesse gibt im Alltag sondern alles vom Wohlwollen der Person gegenüber abhängt (zumindest geht dann alles sehr viel schneller und einfacher). Das Positive ist, dass oftmals Sachen möglich sind, die bei uns nicht möglich wären (z.B. Rückgabe von Konzerttickets obwohl AGBs klar besagen, dass Rückgabe nicht möglich ist oder dass ein Handwerker auch mal am Feiertag kommt)… aber das Negative ist natürlich, dass es keine fixen Regeln gibt und sich auch keiner dafür einsetzen würde (auch Unternehmen tun sich damit sehr schwer).

2. Welche Regel meinst du? Wie schon erwähnt ist das Einhalten von Regeln oder Gesetze nicht die Stärke von Brasilianern. Ob beim Autofahren (bei Rot weiterfahren/ Busspur nutzen/ Seitenstreifen auf der Autobahn nutzen), bei der Arbeit („für diesen Kunden funktioniert der Prozess nicht, daher löse ich das Problem auf meine Weise“) oder in anderen Situationen (Steuerzahlungen)…und es fehlt nicht gerade an Regeln und Gesetzen, die sich ständig ändern und mehr werden um Schlupflöcher mit noch komplexeren Regeln zu stopfen. Der Wirrwarr macht es jedem Unternehmen schwer die neuesten Gesetze inkl. Auslegungen zu kennen und sie auch konform zu befolgen…wichtiger ist dann doch ein guter Draht zu jemanden aus der Verwaltung, dem Rathaus oder der Politik, der vielleicht ein Auge zudrückt oder die Regel flexibel auslegt. Da es auch kein Maßregeln von Mitmenschen im öffentlichen Raum gibt (z.B. wenn man über Rot über die Ampel geht oder einer älteren Dame seinen Platz in der Bahn nicht anbietet), stört sich keiner so recht dran, dass Regeln nicht befolgt werden. Auch für dieses Verhalten wird immer wieder die Sklaverei angeführt – dadurch dass die Portugiesen viele Gesetze, hohe Steuern und wenig investiert haben, haben die Sklaven damals alle Schlupflöcher genutzt um diese Regeln zu umgehen. Dies ist heute noch genauso – selbst wenn man eine Regelung kennt, wird man sie immer flexibel interpretieren oder ein Schlupfloch finden… „Alles was nicht ausdrücklich und ganz konkret verboten ist, ist erlaubt!“. Gesunder Menschenverstand – Fehlanzeige. Man muss natürlich auch sagen, dass es bis heute kein Vertrauen in Obrigkeiten gibt – insofern sehen es viele als ihr gutes Recht an z.B. keine Steuern zu zahlen. „Wir werde regiert von Dieben, wieso soll ich da Steuern zahlen?“ Obwohl wir inzwischen damit umgehen können, ist es doch sehr schwierig manche Situationen, insb. bei der Arbeit, zu akzeptieren, weil es immer wieder Grauzonen gibt. Aber genauso klar ist, dass man vieles nicht erreichen kann, wenn man die Regeln alle genauso befolgt wie sie gemeint sind. Deutsche Gründlichkeit ist hier absolut fehl am Platz…und geht meist nach hinten los. Wir hätten selbst nicht gedacht, aber wahrscheinlich werden wir nach der Rückkehr umso akribischer Regeln in Deutschland befolgen, weil sie meistens doch einen Sinn haben und uns hier erst klar wird wie sehr diese Regeln die Gesellschaft zusammen halten.

Als ich unseren brasilianischen Kulturcoach fragte, wie ich denn meine Mitarbeiter motivieren könnte, hat er kurz gelacht. „Der Brasilianer arbeitet nicht gerne, Arbeit ist ein notwendiges Übel – es ist nicht wie in Europa, wo man durch mehr Verantwortlichkeit, neue Aufgaben oder auch mehr Geld den Mitarbeiter motivieren kann. Der brasilianische Mitarbeiter muss dich als Person mögen, dann arbeitet er auch gut für dich – weil er den Eindruck hat, er hilft dir dadurch.“ Harte Worte, aber nachdem ich selber ein paar Motivations-Tests mit Mitarbeitern gemacht habe, kann ich leider nur bestätigen, dass viele (nicht alle) nicht intrinsisch motiviert sind oder sich motivieren lassen. Es ist eher so, dass man durch kleine Aufmerksamkeiten wie Kuchen oder Schokolade, durch das Verbessern des Ambientes bei der Arbeit und durch viel Loben (auch für die dümmsten Sachen) die Mitarbeiter für sich gewinnt. Wenn das erstmal geschafft ist, kann man viel mit den Mitarbeitern erreichen – aber Eigeninitiative oder Extrameilen gehen sind die Ausnahme. Wichtig sind ganz klare Vorgaben ohne viel Interpretationsspielraum sowie kontrollieren, kontrollieren, kontrollieren. Und wenn gar nichts mehr geht, dann hilft Druck! Damit verspielt man sich zwar manchmal die zwischenmenschliche Komponente, aber mit Angsterzeugung kann man hier auch einiges schaffen – eine Masche die von brasilianischen Chefs gerne genutzt wird, um die eigene Machtposition zu untermauern und die Hierarchie klarzustellen (erinnert auch an die Sklavenzeit). Wenn die Mitarbeiter nicht den Eindruck haben, dass irgendetwas sehr wichtig ist, passiert nicht viel…dann macht man lieber andere Sachen. „Wenn der Chef nicht nachfragt, scheint das Thema nicht wichtig.“ Bedeutung hat eher der soziale Aspekt bei der Arbeit…beim Kaffee oder Mittagessen werden die Entscheidungen getroffen, wichtige Infos ausgetauscht. Wie ihr euch sicher schon denken könnt, ist auch hier die Sklaverei schuld – gepaart mit der Nahrung im Überfluss. Zum einen hatten die Brasilianer nie richtig die Notwendigkeit zu arbeiten, da wie schon erwähnt, ihnen die Mango in den Mund gefallen ist und die Temperaturen auch so hoch sind, dass man zum einen gut im Freien leben kann und lieber am Strand ist als im Büro (sehr platt gesagt). Während der Sklaverei (ca. 4 - 5 Millionen sind aus Westafrika nach Brasilien verschifft worden) hat natürlich auch niemand freiwillig gearbeitet, sondern wurde gezwungen…das Gefühl hat man heute noch bei einigen Brasilianern. Zum Glück bekommt man bald heraus, wie die einzelnen Mitarbeiter ticken und kann dann entsprechend zwischen Zuckerbrot und Peitsche variieren.

4. Wo gibt’s das schnelle Geld? Wie die vorherige Frage schon zeigt, gibt es kein großes Bestreben (wie z.B. in den USA) über viel Arbeit und Schweiß reich zu werden. Unternehmer genießen nicht den gleichen Stellenwert wie bei uns: die Risikobereitschaft, Ausdauer und Innovationsstärke von Unternehmern werden nicht ganz so stark wertgeschätzt – es herrscht eher Neid oder man schreibt den Erfolg guten Kontakten zu. Insofern wird ehrliches Arbeiten nicht honoriert. Viel erstrebenswerter scheint das schnelle Geld, das man machen kann… ob beim Lottospielen, durch Listigkeit oder Kreativität (Nach einem Dammbruch in Minas vor einigen Wochen wurde z.B. sauberes Wasser knapp und der Wasserpreis stieg sehr schnell an. Keine Anzeichen von Solidarität oder Hilfe). Es gibt auch Brasilianer, die primär arbeiten um sich einen materiellen Wunsch (wie z.B. einen Mofakauf) zu erfüllen. Nachdem das Geld dann nach einigen Monaten zusammen ist, verlassen sie von heute auf morgen das Unternehmen und genießen die Zeit mit dem Mofa. Leider liegt durch das Aus sein auf das „schnelle Geld“ auch immer die Grauzone zwischen ehrlichem Geldverdienen und Geld abzweigen, auch in Unternehmen (daher gibt es hier meistens 6 – 8 Augenkontrollen und viele Unterschriften). Und auch das kriminelle Geldverdienen mit Drogen oder Prostitution ist für einige wenige attraktiver als tagelang zu schuften und sich trotzdem nichts leisten zu können… Wirtschaftsgeschichtlich hat Brasilien auch bisher noch nicht ausreichend in nachhaltige Industriekonzepte investiert oder Produktionen selber aufgebaut… Es gab eigentlich fünf mehr oder weniger große Wellen, in denen es insb. den Portugiesen immer drum ging, schnelles Geld zu verdienen ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit oder Erhaltung der Natur: Holz, Kautschuk, Zuckerrohr, Diamanten, Kaffee… insofern kann man auch das wieder geschichtlich ein wenig erklären. 5. Hast du schon meine neue Louis Vuitton gesehen? Sehr viel mehr als bei uns wird Reichtum, teure Kleider oder Autos offen zur Schau gestellt und ist (nach Aussagen vieler Brasilianer) auch wichtig, um dem Gegenüber zu signalisieren auf welcher gesellschaftlichen Stufe man steht. Ob man die teure Vuitton-Tasche geschenkt bekommen hat oder vielleicht sogar eine gut gemachte Imitation ergattert hat, spielt nur eine untergeordnete Rolle – man zeigt erstmal allen was man hat. Das geht sogar so weit, dass man Personen die sich nicht gut kleiden (z.B. einem Dienstleister bei der Arbeit) nicht abnimmt dass sie ihr Handwerk verstehen; da kann der Betroffene fachlich und inhaltlich noch so gut sein. Diese Bühne ist natürlich auch ein gefundenes Fressen für gut gekleidete (und zumeist charmante und eloquente) Blender …bis da jemand merkt dass nicht viel dahinter verbirgt, ist es meist zu spät. Viele Brasilianer lassen sich wirklich sehr leicht von (scheinbarem) Reichtum beeindrucken und blenden; ganz egal wie die Person zu diesem Reichtum gelangt ist, man beneidet, vertraut und möchte die Gunst dieser Person erlangen. Dieses „Spiel“ ist in allen sozialen Schichten zu beobachten – viele Brasilianer hegen einen materiellen Traum (ob die teuren Adidas-Schuhe in ärmlicheren Vierteln oder ein Range Rover in der Mittelklasse) und wenn der erstmal erreicht ist, wird er sehr offen zur Schau gestellt. Für Frauen kommt neben dem materiellen „zur Schau stellen“ noch die eigene Schönheit ins Spiel; bei der Arbeit ist es Usus stark geschminkt zu sein oder mit den weiblichen Reizen zu spielen. Sorry…es wird langweilig. Aber auch hier ist eine Begründung von Experten, dass aufgrund der Kolonialzeit, in der Sklaven nichts besitzen durften, die Brasilianer heutzutage umso mehr zeigen müssen, was sie haben. Man möchte zeigen, dass man es geschafft hat und nicht zu einem ärmlichen Schicht gehört…nicht durch Bildung oder z.B. ehrenamtliches Engagement…der materielle Wert zählt. Für uns ist das alles interessant zu beobachten und teilweise kennt man dies ja auch aus anderen Teilen dieser Welt… und das Beste ist, dass alle Ausländer die nach Brasilien kommen sowieso als sehr reich gelten und daher nicht ihren materiellen Besitz zur Schau stellen müssen. Auch Nicht-Schminken ist erlaubt…das freut vor allem Carmen :- )


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