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Einblicke in die Gedanken eines Brasilianers – Teil 2

Schon vor einigen Monaten hatte ich einen Artikel über die kulturellen Unterschiede bzw. Auffälligkeiten der brasilianischen Kultur für einen Ausländer geschrieben. Die Hauptthesen bzw. aufgeworfenen Fragen, die aus meiner Sicht das Verhalten vieler Brasilianer beschreibt, waren: 1. Bist du Freund oder Feind? 2. Welche Regel meinst du? 3. Wieso muss ich eigentlich arbeiten? 4. Wo gibt’s das schnelle Geld? 5. Hast du schon meine neue Louis Vuitton gesehen?

Ich habe mir eben den Artikel nochmals durchgelesen und mich ein wenig gewundert, denn im Laufe der Zeit ändert sich ja aufgrund neuer Erfahrungen oder Blickwinkel oftmals auch etwas die eigene Meinung. Aber in diesem Fall sehe ich mich eher bestätigt, durch Erlebnisse, die diese fünf Themen unterstreichen. Klar kann man nicht behaupten, dass alle Brasilianer nach genau diesem Schema ticken, aber ein kulturelles Muster lässt sich ganz gut ableiten - genauso wie bei uns Deutschen natürlich auch. Das ist übrigens eine Sache, die Carmen und mir extrem auffällt in den letzten Monaten. Man lernt seine eigene Kultur, die Verhaltenskodexe, kulturelle Prägungen und Werte nochmals ganz anders kennen, wenn man tagtäglich in einer fremden Kultur agiert – und es wird einem bewusst wie automatisiert man viele Sachen macht ohne sie richtig zu hinterfragen. Schon alleine die Tatsache, dass man in Brasilien nicht alles planen kann und es immer anders kommt als man denkt, war anfangs schwierig zu akzeptieren. Aber inzwischen haben wir uns dran gewöhnt und können vielen Situationen entspannter entgegensehen und müssen nicht alles vorher durchplanen…aber dieses „Wegfallen von Sicherheit“ ist manchmal doch noch gewöhnungsbedürftig für uns. Andererseits erklärt es glaube ich ein wenig die brasilianische Lockerheit und Lebensfreude die man überall erleben kann – es wird zwar gerne gemeckert, aber im Grunde wollen die meisten nur „intensiv das Hier und Jetzt erleben“ und können nicht verstehen, wie man viele Gedanken mit Planung verschwenden kann, wenn dann sowieso alles anders kommt als man denkt. Aber dazu später mehr…jetzt erstmal ein paar weitere Einblicke in die Gedanken eines Brasilianers.

6. Wieso sollte ich mich engagieren oder solidarisch sein? Ich helfe doch schon meiner Familie...

Auffällig war für uns von Anfang an, dass die Brasilianer extrem viel für Ihre Familie und engsten Freunde machen – wochenends geht es zumeist mit der gesamten Familie an den Strand, oder man trifft sich zumindest einen Tag zum Feijoada-Essen oder Grillen. Wo man in Deutschland die Familie vielleicht einmal im Monat sieht wenn man in der Nähe wohnt, ist hier selbst bei größeren Entfernungen der Wochenrhythmus Gang und Gäbe. Auch wenn es gesundheitliche oder finanzielle Probleme gibt, ist stets die Familie mit Rat und Tat zur Stelle. Nicht selten wohnen auch noch drei Generationen im gleichen Haus, insb. wenn die älteren Kinder noch nicht verheiratet sind. Außerhalb dieses sehr engen Kreises der meisten Brasilianer gibt es natürlich noch die Arbeitskollegen, entferntere Freunde, Vereine und natürlich auch die Gesellschaft als Ganzes. Je weiter man sich vom engsten Kern entfernt, desto mehr reduziert sich die Solidarität oder auch das Engagement der Brasilianer. Es gibt sehr wenige meiner Kollegen, die z.B. ehrenamtlich in Vereinen oder Parteien arbeiten; die freie Zeit wird lieber „mit den Engsten genossen“. Finanzielles Engagement wie Spenden für Stiftungen oder konkrete Projekte steht gar nicht zur Debatte, „man kann ja keinem trauen hier in Brasilien“. Auch wenn es darum geht sich als Gemeinschaft für bestimmte Rechte einzusetzen, gegen Korruption zu wehren, auf Demonstrationen zugehen, tun sich die Brasilianer schwer. Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass es in Brasilien noch nie eine funktionierende, gerechte, korruptionsfreie politische Struktur gegeben hat und daher das Vertrauen in den Staat, Solidaritätsprinzip oder politische Partei gleich Null ist. Daher wird das Steuer hinterziehen nicht ganz so schlimm gesehen – das Geld kommt ja sowieso nicht da an, wo es sollte. All das ist irgendwo nachvollziehbar, aber im gleichen Moment schwer verständlich – in einem Land mit einer solch großen Einkommensschere und einem riesigen sozialen Gefälle sollte man meinen, dass besser situierte Schichten mehr Solidarität zeigen und ihren Beitrag zu einem gerechteren Brasilien leisten – auch im Sinne von „wer mehr Macht hat, trägt auch eine größere (gesellschaftliche) Verantwortung“.

7. Wieso sollte ich einen Konflikt eingehen? Lieber bin ich flexibel

In Deutschland geht es oft darum Recht zu haben – ob bei der Arbeit oder Diskussion mit Freunden, man möchte zeigen, dass der eigene Standpunkt der richtige ist und geht dafür auch gerne mal hitzige Diskussionen ein. Mir fehlen hier solche Gespräche manchmal richtig – in Brasilien geht es dem Einzelnen nicht darum herauszufinden was in einer Situation das Richtige ist, es geht eher darum nicht das Gesicht zu verlieren und auch immer auf der „gewinnenden Seite“ zu stehen. Daher ist es besser bei der Arbeit z.B. nicht seinen eigenen Standpunkt mitzuteilen („der Chef wird schon rechthaben“) und man wird auch keinen Konflikt eingehen, wenn ein guter Freund in ein Restaurant möchte, auf das man eigentlich überhaupt keine Lust hat („lieber akzeptieren, sonst ist der Freund am Schluss noch sauer“). Es finden sehr wenige Diskussionen mit Austausch von unterschiedlichen Fakten, Gesichtspunkten statt – man hangelt sich eher von einem Thema zum anderen und spricht es nur oberflächlich an. Das hat auch sein Gutes, denn die Atmosphäre ist daher so gut wie immer entspannt…und man kann ohne Probleme auch den Standpunkt einfach wechseln, was den Gegenüber selten verwundert (selbst wenn es eine 180 Grad Drehung ist). Es gibt selten Personen, die nur um „Recht zu haben“ auf ihrem Standpunkt beharren und so Projekte verhindern, was es ja in deutschen Gefilden doch immer wieder gibt. Lieber bleibt der Brasilianer flexibel, dann kann er immer auf der gewinnenden Seite stehen – das eigentliche Thema ist dabei eher sekundär. Vor 2 Monaten meckerte jeder Brasilianer über die brasilianische Nationalmannschaft und schaute kein Spiel mehr – nun, nach 3 Siegen mit neuem Trainer, träumen alle vom nächsten Weltmeisterschaftstitel und fiebern jedem Spiel ein paar Tage vorher entgegen. Das klingt auf Anhieb sehr rückgratlos und wankelmütig, auf der anderen Seite hat es uns Deutsche auch etwas Wichtiges gelehrt: was heißt hier denn eigentlich richtig oder falsch? Schlechter oder guter Fußball? Schwarz oder weiß? Das Leben – vor allem hier in Brasilien – ist doch so unendlich viel komplexer…und etwas mehr Flexibilität lässt auch ganz ungeahnte Offenheit, Allianzen und Anpassungen zu.

8. Was hilft mir Planung? Lebe den Moment...

Die Brasilianer bewundern die Deutschen insbesondere für drei Sachen: das 7:1, Disziplin und die Planung. Im selben Moment wissen sie aber auch, dass Disziplin und Planung nichts für sie sind – das ist was für Deutsche, dem Brasilianer wurden andere Sachen wie Rhythmus, Lebensfreude und Schlitzohrigkeit in die Wiege gelegt. In den ersten Wochen bei der Arbeit habe ich versucht meinen Mitarbeitern klare Deadlines zu setzen, damit sie sich selber ein wenig organisieren können: „Brauche das in 3 Tagen“ oder „bitte mache das bitte nächste Woche fertig“. Es hat so gut wie nie geklappt, weil viele Brasilianer einfach nicht planen – der Brasilianer denkt eher „wenn ein Dokument erst nächste Woche fertig gemacht werden muss, ist es nicht wichtig“ oder „bis dahin passiert noch so viel, da fange ich erstmal nicht an und warte ab. Keine Energie verschwenden“. Seitdem ich dies verstanden habe, verteile ich nur noch Aufgaben die ich auch „sofort“ brauche…die kommen dann auch sehr schnell wieder zurück, wie man sie möchte. Die fehlende Planung kann man aber in einem Land wie Brasilien sehr gut nachvollziehen (selbst wenn es anstrengend sein kann), denn bei einer Inflation von 10%, ständig neuen Richtlinien und Gesetzen, einer oszillierenden Wirtschaft und der neueren Geschichte des Landes mit Militärdiktatur, Konteneinfrierung, wirtschaftlichem Auf und Ab, niedrigen Gehältern, macht es wenig Sinn zu planen. Es ist viel wichtiger sich schnell an neue Begebenheiten anzupassen und den Moment zu leben. Vielleicht ist morgen schon wieder alles anders. Daher gibt es hier so viel Spontanität, Partys, Musik, Genuss, Konsum…zusammenfassend „brasilianische Lebensfreude“. Der Vorteil von der vorhandenen Nicht-Planung sind die Flugpreise 3 – 6 Monate vor Abflug, denn die sind meistens um einiges günstiger wie 6 Wochen vorher, wo jeder überlegt wo er denn Weihnachten oder Karneval verbringen könnte.

9. Gibts ein Problem? Ich wars nicht…

Tatort Sao Paulo: Ein Zimmermädchen lässt aus Versehen beim Putzen ein Glas fallen und weiß nicht was sie machen soll. Einfach verschwinden lassen oder doch melden – was passiert dann? Das Zimmermädchen entscheidet sich fürs Melden mit den Worten „Das Glas ist kaputtgegangen“. Als wäre das Glas von alleine auf die Idee gekommen einfach mal so in 100 Stücke zu fallen…selten würde man die Antwort hören „Ich habe das Glas fallenlassen und kaputtgemacht“. Es ist ein kleiner Unterschied, aber es ist immer wieder auffällig wie im Alltag die positiven Dingen mit einem dicken „ICH“ versehen werden – aber die Themen die nicht so dolle sind oder schief gegangen sind allgemein formuliert werden, vertuscht werden oder im schlimmsten Fall andere dafür verantwortlich gemacht werden. Inzwischen hatte ich unzählige Situationen (ganz banale Sachen), wo Personen ganz klar einen Fehler begangen haben, es aber nicht zugeben konnten und einen Fall konstruieren, so dass doch wieder andere Personen daran schuld sind. Das Einfachste für eine Westeuropäer wäre eigentlich immer sich kurz zu entschuldigen, erklären warum das passiert ist und es nächstes Mal besser machen…aber in einer Kultur des Gesichtswahrens, die stark geprägt ist durch ihre koloniale Geschichte, in der alle Fehler der Untergebenen streng geahndet wurden, ist es schwierig eine solche Offenheitskultur zu erwarten. Das amerikanische „Fail forward“ wird hier bei den wenigsten Brasilianern als erstrebenswert gesehen – das hängt leider auch damit zusammen, dass auch heute noch „reichere Leute“ ihr Zimmermädchen, Sicherheitspersonen oder Bedienungen sehr schlecht behandeln und dadurch die koloniale Vergangenheit ein wenig aufrechthalten.

10. Wieso sitzt du alleine im Café? Du musst ein Problem haben…

Auch noch nach bald zwei Jahren komme ich mir immer etwas komisch vor, wenn ich alleine in einem Café sitze und einfach nur Zeitung oder ein Buch lese – das ist scheinbar eine eher europäische Beschäftigung. Jedes Mal wiederholt sich das Spiel: Die Bedienung fragt erstmal, wie viele andere Personen denn noch kommen und nachdem ich ihr erkläre, dass ich heute alleine bin, bringt sie mir mitleidig die Karte. Dass man dann zwei Stunden lesend im Café verweilt, nicht mal mit einem eigenen Hund, stößt auf völliges Unverständnis bzw. versetzt die Brasilianer ein wenig ins Stauen (auch weil Lesen nicht gerade eine Lieblingsbeschäftigung der Brasilianer ist). Aber dies zieht sich durch alle Beschäftigungen, die man alleine machen kann (z.B. Kino, Theater, Sport)….der Brasilianer braucht die Gemeinschaft, andere Personen, um glücklich zu sein – ich habe den Eindruck, dass dabei die Beschäftigung gar nicht im Vordergrund steht, sondern eher die gemeinsamen Momente die man miteinander verbringt. Während in Deutschland die wenigsten Personen Aktivitäten nachgehen würden, für die sie sich nicht sehr interessieren, ist dies in Brasilien eher der Fall. Inzwischen sage ich meinen Kollegen meistens, dass ich irgendwas mit Freunden gemacht habe (selbst wenn ich eine Stunde alleine Radfahren war), weil es für sie absolut nicht nachvollziehbar ist irgendetwas alleine zu machen und sie mich ansonsten auf alle möglichen Familienessen am Wochenende einladen würden. Wahrscheinlich sind wir Europäer einfach individueller, sind es gewohnter in jungen Jahren auszuziehen und uns dabei auch mit uns selber zu beschäftigen – in Brasilien ist dann doch das Kollektiv, meistens in Form von Familie und engen Freunden, wichtiger. Nicht fehlen darf dabei übrigens nie das gemeinsame Selfie-Bild, dass schnell auf Instagram oder Facebook geladen wird. Inzwischen habe ich eine Brasilianerin kennengelernt, die auch gerne alleine im Café sitzt. Was ist der Haken? Sie hat portugiesische Vorfahren, Familie in Frankreich und reist einmal im Jahr nach Europa.


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