Die politischen Krisen in Brasilien wollen einfach nicht abreißen, im Gegenteil…seit dieser Woche steht nun der Präsident Michel Temer im Kreuzfeuer. Im Zuge von „House of Cards“ ähnlichen Intrigen ist ein abgehörtes Gespräch aufgetaucht, in dem der Präsident dem größten Unternehmer Brasiliens (Joseley Batista, JBS) so wie es scheint zustimmt weiteres Schweigegeld an den inhaftierten Politiker Eduardo Cunha zu zahlen, damit dieser nicht mit der Justiz zusammenarbeitet und zur Aufklärung des übergeordneten Korruptionsskandals in Brasilien („Lava Jato“) beiträgt. Darüber hinaus sind etliche Dokumente mit konkreten Auszahlungssummen des Unternehmens JBS für Politiker aller Parteien aufgetaucht; auch der Präsident selbst sowie die beiden ehemaligen Präsidenten (Lula da Silva und auch die in 2016 abgesetzte Rouseff) sind genannt. Die politischen Taktiken, Lügen und Intrigen in House of Cards können inzwischen in keinster Weise mehr mit der brasilianischen Realität mithalten. Wer soll dieses System in kurzer Zeit restrukturieren, legitimieren und insbesondere das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen? Heute scheint das so gut wie unmöglich, da alle Parteien in Korruptionshandlungen verstrickt waren und wahrscheinlich noch sind.
Die gute Nachricht ist, dass seit Donnerstag ein Urlaub in Brasilien für Europäer aufgrund des Wechselkurses um 15% billiger wurde – Die schlechte Nachricht ist, dass sich in der Politik aktuell niemand um größere, notwendige Reformen kümmert, sondern nur versucht sein eigenes Hab und Gut zu retten, strafreduzierende Gesetze durchs Parlament winkt und sein eigenes politisches Überleben gewährleisten möchte. Wie lange der aktuelle Präsident noch im Amt bleiben kann ist ungewiss – eigentlich sind nächstes Jahr Neuwahlen, aber viele wetten schon auf vorgezogene Wahlen in diesem Jahr. All dies hilft in keinster Weise der Wirtschaft Brasiliens, die sich nach 3 Jahren Krise auf dem Tiefpunkt befindet und in diesem Jahr erstmals wieder leicht wachsen sollte. Viele Investoren beobachten die Lage sehr genau, scheuen sich nach wie vor vor großen Investitionen und haben gerade in dieser Woche wieder vermehrt Gelder abgezogen. Das olympische Disaster sitzt vielen noch im Nacken: bis auf die verbesserte öffentliche Verkehrs-Infrastruktur ist kein „post-olympisches“ Versprechen umgesetzt worden. Das olympische Dorf wurde bisher nicht in eine attraktive Wohngegend umgebaut (nur 20% der Wohnungen sind bisher verkauft), die olympischen Stätten sind nach 6 Monaten schon am Verfallen ohne dass die versprochenen weiterführenden Projekte umgesetzt worden wären (u.a. Schulen, Sportstätte für Vereine) und das brasilianische olympische Komitee sitzt auf einem Schuldenberg, den das Bundesland Rio de Janeiro nicht übernehmen möchte und finanziell auch nicht kann – der Staat Rio ist Pleite. Die Politiker, die in der Olympia-Bewerbung Rios involviert waren, sitzen inzwischen (aufgrund diverser Anklagen – unter anderem Korruption bei Vergabe der Bauprojekte der Spiele) im Gefängnis, sind sich aber keiner Fehler bewusst. Die Zahlungsunfähigkeit des Staates führt dazu, dass Beamte von Stadt und Staat Rio ihre Gehälter nicht oder nur sehr verspätet bekommen, viele notwendige Projekte im Gesundheits- und Bildungsbereich gestrichen werden und die Gewalt in den Favelas steigt.
In Sao Paulo ist die Situation besser als in Rio, aber auch hier fehlt es an allen Ecken und Enden an öffentlich Geldern, so dass Anfang des Jahres Einschnitte von 15 – 20% in vielen Sektoren vorgenommen wurden. Die Organisation, in der ich arbeite, betreibt 15 Gesundheitseinrichtungen (100% finanziert vom Bundesstaat Sao Paulo) in ärmlicheren Regionen der Stadt, die auch von diesen Einschnitten betroffen sind. Die Folge ist, dass viele ärmere Familien überhaupt keine medizinische Versorgung in ihrer Umgebung haben und daher viele Krankheiten überhaupt nicht behandeln lassen. Wer möchte schon krank 2 Stunden Busfahrt auf sich nehmen? Leider sind die beiden wichtigsten, langfristigen Bereiche für eine funktionierende Gesellschaft (Gesundheit und Bildung) von den kurzsichtigen und kurzfristigen Einschnitten stark betroffen und verhindern dadurch eine nachhaltige Entwicklung Brasiliens. Man möchte sich nicht vorstellen, wie das Land prosperieren würde, hätte man die veruntreuten Gelder der letzten 20 Jahre bereits in solche sozialen Projekte gesteckt.
Nach über zwei Jahren Brasilienerfahrung kann man weite Teile der Bevölkerung nur zu gut verstehen, die dem politischen Establishment nicht glauben, kein Vertrauen in Staat und Justiz haben und sich als Folge davon abwenden und ihre eigene Realität kreieren (Steuerhinterziehen, Gesetze nicht beachten, eigene Geschäfte betreiben). Nutznießer dieser Situation – wenn es in solch einer Situation überhaupt Gewinner geben kann – sind die Drogenkartelle in Sao Paulo (PCC), Rio (CV, ADA) und im Norden (FDN) des Landes, die dieses Vakuum nutzen und ihre illegalen Geschäfte vergrößern, ihren Einflussbereich in allen Lebensbereichen und sozialen Schichten ausbauen und sich als Hüter von Recht und Ordnung darstellen. Für einen Mitgliedsbeitrag von ca. 150 Euro pro Monat bekommt in einem dieser Kartelle zum Beispiel eine Krankenversicherung, rechtlichen Beistand und mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Beschäftigung…mit solchen Angeboten kann der Staat aktuell nicht mithalten. Die Gefängnisaufstände im Januar dieses Jahres haben die Macht der Kartelle offen gezeigt (https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2017/01/17/brazils-prison-massacres-are-a-frightening-window-into-gang-warfare/?utm_term=.95a215682002), aber auch der spektakuläre Überfall in Paraguay hat gezeigt wie gut organisiert und hochtechnologisch ausgestattet die Kartelle inzwischen sind (http://www.spiegel.de/panorama/justiz/paraguay-mehrere-tote-und-millionenbeute-bei-jahrhundert-raub-a-1144661.html).
Wir bleiben dran und beobachten weiter...spannend ist hier auf jeden Fall jeder einzelne Tag!