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The Show must go on – Arbeiten in Brasilien

Nach Chris’ letztem Eintrag kann man sich tatsächlich fragen, was ein solches Land und insbesondere die Wirtschaft abseits von politischen Machenschaften und Schattenwirtschaft überhaupt noch zusammenhält.

Interessanter Weise ist es gerade die in unseren Augen oft mangelnde Disziplin oder Ausdauer. Funktioniert eine Lösung nicht auf Anhieb, wird oft schnell zum nächsten Tagesordnungspunkt übergegangen. Wirklich drängende Probleme werden so häufig unter Druck und auf die letzte Minute gelöst – mit Kreativität und Mut zur Lücke.

Während viele Gringos vom daraus resultierenden Auf und Ab des brasilianischen (Arbeits-)Alltags oft ermattet sind, haben die Brasilianer ein großes Reservoir an Kreativität und Energie, das insbesondere in den schwierigeren Momenten genutzt wird. Was nutzt auch langes Planen oder Problemanalyse, wenn beides oft durch neue Realitäten und Verhältnisse überholt wird.

Man kann all dies, ähnlich des Henne-Ei-Problems, natürlich auch anders herum darstellen und sich Fragen: fördert ein kurzfristigeres Denken und situative Entscheidungen nicht gerade die Instabilität? Wäre es für die Brasilianer nicht auch besser, sich stabiler Grundlagen sicher zu sein, Themen chronologisch abzuarbeiten und auf Basis jahrelanger, mühsamer Kleinarbeit auch endlich einmal einen Nobelpreis zu erringen? Gemessen an der Einwohnerzahl und der wirtschaftlichen Bedeutung Brasiliens verwunderlich – oder bezeichnend – das bislang kein Brasilianer einen Nobelpreis erhalten hat.

Nun, in der Theorie kann man das natürlich durchaus so hinterfragen, in der Praxis aber weiß der (deutsche) Volksmund: man kann eben nicht aus seiner Haut. Wie in vielen „latinischen“ Gesellschaften, z.B. auch in Italien oder Mexico, gründen Vorgänge und Organisationen hauptsächlich auf Beziehungen, 100% fokussiert auf den Menschen – Es menschelt sehr. Das heißt konkret, dass Abläufe immer primär an Leuten hängen, eben nicht an Prozessen. Neue Mitarbeiter interessieren sich nicht sehr für bestehende Prozesse und Übergabedokumente und die Aussteigenden lassen sofort alles hinter sich – die Art zu Arbeiten wird schnell an neue Vorgesetzte und Kollegen angepasst. Entscheidungen hängen an Beziehungen, nicht so sehr an Fakten. Eine Trennung von Persönlichem und Fakten ist selten möglich und persönliche Kränkungen und Gesichtsverlust müssen vermieden werden, so dass man Probleme nicht zu direkt anspricht. Lösungen hängen an Situationen und der Problemwahrnehmung der Beteiligten, nicht an logischen Zusammenhängen. Wenn die Situation oder die Perspektive der Beteiligten, die die Lösung verlangt hat, sich verändert, verändert sich damit auch die Lösung. In solch einem Umfeld einmal ganz nüchtern (!) an das gesellschaftliche Erbe (= Erbe, das - Substantiv, Neutrum) für kommende Generationen (= namenlos, abstrakt und heute noch nicht einmal existent) zu diskutieren und darauf hinzuplanen, erscheint beinahe unlogisch, zumindest aber technokratisch und „kalt“ (frio).

Eine besondere Problematik ergibt sich dann durch einen hohen Fokus auf Materialismus & Konsum nach amerikanischem/angelsächsischem Vorbild. In einer Kultur mit ohnehin recht kurzen Planungshorizonten ist das Kreieren und Vermarkten von Trends und Konsumwünschen verhältnismäßig einfach und lukrativ. Brasilianer vergleichen sich sehr stark mit anderen, reicheren Schichten und Ländern und dieser nach oben gerichtete Vergleich befeuert die Suche nach dem eigenen, individuellen Platz an der Sonne. Somit ist es für einen Politiker oder Wirtschaftslenker gar nicht sooo verwerflich, sich zu bereichern, da er ja ganz unverhältnismäßig arm dran ist im internationalen Vergleich, aber ja wohl genauso viel schuftet wie sein amerikanischer oder europäischer Kollege, und die übrigen gesellschaftlichen Schichten haben auch sofort ihren Richtwert: wenn die oben ja immer mehr haben und noch dazu mehr halblegal oder illegal einstecken, kann man sich selbst ja auch einmal „etwas gönnen“ (voce merece). Diese Verknüpfung aus wollen, was die anderen haben und auf der anderen Seite nicht daran glauben – oder wie weiter oben beschrieben gesellschaftlich-kulturell nicht daran glauben zu können – dass Wirkung direkt auf Ursache (wie z.B. Erfolg auf Arbeit) folgt, ist meiner Meinung nach eine recht unglückliche Kombination.

Das bedeutet aber nicht, dass sich europäische/angelsächsische Disziplin sich nicht auszahlt – im Gegenteil! Regelmäßiges Nachfassen zu einem Thema ist notwendig, sonst erscheint es nicht wichtig und anderen, kurzfristig drängenderen Themen wird Priorität gegeben. Dadurch, dass so häufig nachgefasst werden muss, ist auch ein Vielfaches an Zeit oder Aufwand für den gleichen Output nötig. Da aber ein Mitarbeiter es seinem Chef, Projektleiter oder persönlich (!) geschätzten Kollegen recht machen und die gute Beziehung erhalten will, wird er nach mehrmaliger Erinnerung das wichtige Thema unbedingt bearbeiten. Man muss seine Gefechte in Brasilien wählen, aber steter Tropfen höhlt auch hier den Stein.

Außerdem kann die Zusammenarbeit von bspw. Deutschen und Brasilianern (wenn sie sich die Zeit nehmen eine funktionierende Kommunikation aufzubauen und ein Minimum an gegenseitigem Verständnis aufbringen) ausgesprochen produktiv sein: man stelle sich ein Großprojekt und seine verschiedenen Phasen vor. Zunächst einmal muss ein solider Plan her – ruft das deutsche Team zur Analyse des Grundproblems, möglichen Lösungen, Parametern und benötigten Ressourcen. Einmal ausgetüftelt, würde ich mir einem hands-on US-Kollegen wünschen, der keine Zeit verliert die Details des Plans B, C und D zu verstehen, sondern sich auf das Wesentliche konzentriert und das Projekt „smooth“ umsetzt. Tritt dann völlig Unvorhergesehenes ein, testet der US-Kollege undogmatisch Plan B bis D und verfällt auch dann nicht in Schockstarre, wenn die auch nichts helfen, sondern ruft die brasilianische Feuerwehr, die auch unter großem Zeitdruck die kreative Lösung bringt.

Wer bis hierhin gelesen hat, ist eingeladen mir auch bei meiner Schlussüberlegung zu folgen: Trotz all der Unterschiede und Wunderlichkeiten, ist es nicht auffällig, dass es zu den meisten meiner Beobachtungen von „brasilianischen Wesenszügen“, deutsche, altbekannte Sprichwörter gibt? Sind die brasilianischen Verhältnisse wirklich so anders?


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