Eine sehr individuelle Frage, auf die es keine universelle Antwort gibt. Auf der einen Seite gibt man erstmal einiges auf, wenn man sich entschieden hat ins Ausland zu gehen – meistens sind da Familie und Freunde, ein gesichertes Arbeitsumfeld mit einem aufgebauten Netzwerk, die Heimatverbundenheit inkl. Vereinsleben, Festen und einem festgelegten „Jahreszyklus“. Im Grunde muss man dies erstmal alles loslassen und weiß überhaupt nicht, ob es das wert ist und man durch eine solche Entscheidung mehr verliert als gewinnt. Als sicherheitsbewußter Bürger denkt man natürlich auch gerne daran, was nach der Rückkehr dann passiert – kann man sich wieder ins gemachte Nest setzen, werden die alten Freunde sich verändern nach ein paar Jahren, lohnt sich ein solcher Schritt karrieretechnisch oder verliert man eventuell an Kaufkraft und Ansehen. Wie bei so vielen Lebensentscheidungen fokussiert der Mensch primär auf die Aspekte, die er verlieren könnte sowie auf die Gefahren/ Schwierigkeiten die in einem neuen Leben im Ausland auftreten könnten – selten sehen Menschen in erster Linie all die neuen Möglichkeiten, Chancen, neue Bekanntschaften und persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten die sich einem im Ausland bieten können.
In erster Linie hilft ein Auslandsaufenthalt das Leben aus einer ganzen neuen Perspektive zu sehen, man beobachtet tagtäglich, dass es nicht einen Weg zur Lösung gibt, sondern etliche und diese sind oftmals kulturell bzw. historisch bedingt. Es gibt selten die eine richtige Perspektive die universell Gültigkeit besitzt, aber viele Sichtweisen die oftmals zu gleichen Resultaten führt. Wenn man dies erstmal akzeptiert hat, beginnt man sich von seinen „starren Vorstellungen“ und den eigenen Erfahrungen und Überzeugungen der letzten Jahrzehnte zu lösen und lernt dadurch selber Probleme auf andere Weise zu lösen. Die Basis für diese Reflexion ist das unvoreingenommene Beobachten des tagtäglichen Lebens in der neuen Kultur – dies ist ein schwieriger Prozess, da man oftmals alles mit seiner eigenen Kultur vergleicht, dann oftmals auch die „neue Kultur“ kritisiert ohne den Hintergrund dieses Verhaltens ganz zu verstehen. Nur so kann man sich aus meiner Sicht sehr gut integrieren, im Arbeitsalltag erfolgreich sein und sich vom Leben überraschen lassen (anstatt zu kritisieren). Fragen statt urteilen, insbesondere am Anfang der Erfahrung hilft immens – nach einer Zeit wird man seine Schlüsse ziehen, aber dies ist komplizierter als es scheint. In der Theorie wäre es natürlich großartig positive Elemente aus der einen Kultur mit der anderen Kultur auszutauschen und umgekehrt. Aber da man diese Elemente nicht als autark betrachten kann, sondern als Teil des großen Ganzen ist diese Übung schwierig. Man kann für sich selber auf jeden Fall ein paar Elemente in den eigenen Alltag übernehmen – z.B. die Offenheit, Interesse und Herzlichkeit der Brasilianer ggü. Ausländern.
Das großartige an einem Auslandsaufenthalt ist, dass Vieles schiefgeht. Das fängt mit Missverständnissen im Alltag aufgrund der Sprache an, geht über bürokratische Hürden die kein Ende nehmen wollen und geht bis zu peinlichen Situationen (z.B. wenn man die Einladung des neuen brasilianischen Nachbarn wörtlich nimmt und unangemeldet am Nachmittag zum Kaffee vorbeikommt). Auch hier kann man wieder auf zwei Arten reagieren: 1) ich kann mich aufregen, dass alles instransparent ist, die Leute einen nicht verstehen bzw. klar sagen, was Sache ist. Oder 2) ich sehe jede Hürde wie eine kleine Herausforderung, die es gilt gemeistert zu werden. Die vielen kleinen Herausforderungen helfen mir ganz neue Gehirnregionen zu aktivieren, mich gut zu fühlen, wenn ich positive Resultate erziele und ganz nebenbei verstehe ich Land & Leute sehr viel besser. Klar gibt es Situationen, an denen man an allem verzweifelt und es schwierig wird positive Elemente zu sehen, aber auf mittlere Sicht ist dieser „Prozess“ eine großartige Erfahrung. Insbesondere erhöht man dadurch die eigene Resilienz, die einem wo auch immer auf der Welt weiterhilft – und wird gleichzeitig ruhiger und gelassener. Die unvorhersehbare Dynamik bei der Arbeit, schier unlösbare Probleme die täglich aufkommen und die instabile politische und wirtschaftliche Lage (z.B. Inflation) helfen einem dabei.
Ein essentieller Bestandteil eines jeden Auslandsaufenthalts ist die Sprache zu lernen – klar kann man inzwischen oft mit Englisch überleben, aber um die Menschen richtig zu verstehen, mit Ihnen lachen zu können und sich als integraler Bestand der Gesellschaft zu fühlen, sollte man von Anfang an intensivst die Sprache lernen. Auch das ist eine Aufgabe, die anfangs zäh und demotivierend sein kann – auf der anderen Seite hilft jedes kleine Erfolgserlebnis das Ziel zu erreichen (die erste Pizzabestellung am Telefon, die erste Nachrichtensendung, das erste Gespräch, die erste Präsentation, das erste Buch…). Und irgendwann fängt man sogar an in der neuen Sprache zu denken, zu träumen, zu fluchen… Dadurch öffnet sich auf einmal ein ganz neuer Horizont, ich kann auf einmal mit Millionen neuen Menschen in Kontakt treten und mich mit Ihnen austauschen, von Ihnen lernen und selber etwas weitergeben. Das ist ein Punkt, der sich für mich anfangs wie Arbeit angehört hatte („Sprache lernen“) – aber nach knapp 3 Monaten habe ich das gar nicht mehr so gesehen und versucht mit möglichst vielen Leuten zu reden, um die Sprache zu perfektionieren. Hier machen es einem die Brasilianer sehr leicht, da sie immer interessiert und neugierig sind – insb. bei Ausländern. Nur die Grammatik verbessern sie nie; möchte nicht wissen wie sich ein Brasilianer bei uns fühlt wenn er ständig verbessert wird…kkkkk (das ist das brasilianische hahahaha).
Ein anderer interessanter Aspekt des Auslandslebens ist jeden Tag etwas näher an die Wahrheit über das Land zu kommen (wohlwissend, dass man das Land nie ganz verstehen wird bzw. kann). Üblicher Weise lernen wir das meiste über andere Länder der Erde über Medien (Zeitungen, Reportagen im TV, Internet), Gespräche mit anderen Menschen oder über einen Urlaub in diesem Land. Über Medien bekommen wir oft einen negativen Teilausschnitt eines Landes dargestellt (z.B. wg. Unruhen, Krankheitsausbrüchen, Kriegen, Katastrophen), über Gespräche mit anderen Menschen (insb. Ausländer) öffnet sich dieser Horizont oftmals und der Urlaub ist natürlich die beste Methode „einem Land näherzukommen“ – aber auch durch den Urlaub bekommen wir oft ein verfälschtes, herausgeputztes und einseitiges Bild vermittelt. Erst ein längerer Auslandsaufenthalt hilft die wirklichen Herausforderungen des Landes zu verstehen, die vielen „ungesagten“ Themen besser zu identifizieren und ein vielschichtigeres Bild zu entwerfen. Das macht es in Wahrheit nicht einfacher, weil man immer an den Punkt stoßt, dass es nicht das eine Brasilien (in unserem Falle) gibt, aber viele Brasiliens mit ganz unterschiedlichen Facetten – das Brasilien mit Caipi, Fussball am Strand und schönen Frauen ist ein großartiges Marketingbild, das kreiert wurde, hat aber nur bedingt etwas mit der brasilianischen Realität zu tun. Aber es vereinfacht natürlich unsere sowieso schon komplexe Welt. Aber diese Erkenntnis hilft einem, viele Reportagen (die man tagtäglich im TV sieht) nicht für gegeben hinzunehmen, sondern zu verstehen dass unsere Welt vielschichtiger ist und nicht durch einfache Lösungen prosperieren wird.
Zusammenfassend kann man sagen, dass man durch die neue Kultur und das Leben im Ausland, selbst einen Spiegel vorgestellt bekommt und sich selber, seine Werte, Strukturen, Überzeugungen und Verhaltensweisen reflektiert und zukünftig evtl. auch ändern wird. Das ist wahrscheinlich das größte Geschenk einer solchen Erfahrung!
Natürlich hängt viel davon ab, wie offen man im Ausland auch ggü. dem neuen Land und der Kultur ist. Man kann zum Beispiel 3 Jahre in Brasilien leben, in seinen „Expat-Kreisen“ bleiben, deutsches TV schauen und sich von der brasilianischen Realität abschotten – es ist klar, dass man in diesem Fall sehr viel weniger „erfahren“ und ggbfs. ganz andere Reflexionen haben wird als wenn man Teil des Ganzen sein möchte mit all den Problemen, negativen Erlebnissen und manchmal auch Gefahren, die dies beinhaltet.
Wie zu Anfang gesagt, ist die Antwort auf die Frage eine ganz individuelle, die auch je Lebensphase wahrscheinlich unterschiedlich beantwortet wird…wichtig ist nur, dass man nicht die Bedenken in den Vordergrund stellt, sondern die Chancen! Nach bald drei Jahren Brasilien können wir zumindest für uns die Antwort mit einem klaren JA beantworten – obwohl wir uns auch schon sehr auf Familie & Freunde in Deutschland freuen. Dies ist bei all den positiven Sachen, die hier in Brasilien passiert sind, der einzige Wehrmutstropfen der für uns bleibt – die weite Entfernung in die Heimat, die Skype nur zum Teil überbrücken kann.